Wenn ein außergewöhnlicher Umstand dazu führt, dass nicht alle vorgesehenen Flüge stattfinden können, ist dem Luftverkehrsunternehmen bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen ein Spielraum zuzubilligen[1]. Deshalb kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem außergewöhnlichen Umstand und der Annullierung eines Fluges auch dann zu bejahen sein, wenn sich das Luftfahrtunternehmen entschließt, einzelne Flüge am Tag des außergewöhnlichen Umstands nicht mehr durchzuführen, um eine Annullierung oder große Ankunftsverspätung am Folgetag zu vermeiden[2].

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall verfügte die Passagierin über eine bestätigte Buchung für einen von der Fluggesellschaft durchzuführenden Flug, der planmäßig am 27.02.2020 um 18:15 Uhr (Ortszeit) in Stuttgart starten und um 19:30 Uhr in Hamburg landen sollte. Die Fluggesellschaft annullierte den Flug um 20:26 Uhr. Die Passagierin erreichte Hamburg am 28.02.2020 mit einer Verspätung von 12 Stunden und 44 Minuten.
Das erstinstanzlich hiermit befasste Amtsgericht Nürtingen hat die Fluggesellschaft antragsgemäß zur Zahlung von 250 € nebst Zinsen verurteilt[3]. Das Landgericht Stuttgart hat die Klage durch Versäumnisurteil abgewiesen und dieses Urteil nach Einspruch aufrechterhalten[4]. Dies sah der Bundesgerichtshof nun ebenso und wies die hiergegen gerichtete, vom Landgericht Stuttgart zugelassene Revision der Passagierin als unbegründet zurück. Die Passagierin habe keinen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung; die Fluggesellschaft könne sich auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gemäß Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO berufen. Wegen eines Schneesturms in Stuttgart sei der gesamte Flugtag beeinträchtigt worden. Deshalb sei es bereits bei den Vorflügen zur Verzögerungen bei der Zuweisung von Slots gekommen. Diese Vorgänge seien immer noch kausal für die Annullierungsentscheidung des von der Passagierin gebuchten Fluges gewesen.
Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu einer streikbedingten Umorganisation komme dem Luftfahrtunternehmen, das darauf hinzuwirken habe, dass die Beeinträchtigungen für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfallen und nach dem Wegfall der Beeinträchtigung möglichst schnell wieder der Normalbetrieb aufgenommen werden könne, ein Spielraum bei der Beurteilung der zweckmäßigen (Annullierungs-)Maßnahmen zu. Die Fluggesellschaft habe dementsprechend zu Recht unter Einbeziehung der Gesamtheit der Fluggäste eine Ermessensentscheidung zulasten des von der Passagierin gebuchten Fluges und des Folgefluges getroffen, um weitere Flugumläufe am Folgetag beginnend ab Stuttgart zu retten. Die Fluggesellschaft habe hinreichend nachgewiesen, dass es weder bei ihr noch bei anderen Luftfahrtgesellschaften eine schnellere anderweitige Beförderungsmöglichkeit nach Hamburg gegeben habe.
Diese Beurteilung des Landgerichts Stuttgart hielt der rechtlichen Überprüfung durch den Bundesgerichtshof in den entscheidenden Punkten stand:
Zu Recht hat das Landgericht Stuttgart entschieden, dass die Annullierung im Streitfall auf außergewöhnlichen Umständen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO beruht.
Zutreffend ist das Landgericht Stuttgart davon ausgegangen, dass extreme Wetterbedingungen, die zu verspäteten Startfreigaben durch die Flugsicherungsbehörde führen, außergewöhnliche Umstände darstellen können[5].
Ebenfalls zutreffend hat das Landgericht Stuttgart angenommen, dass Störungen, die am gleichen Tag bei vorangegangenen Flügen des eingesetzten Flugzeugs auftreten, auch bei nachfolgenden Flügen als außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO zu berücksichtigen sein können.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass sich ein ausführendes Luftverkehrsunternehmen auf einen außergewöhnlichen Umstand berufen kann, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Flugzeug durchgeführt hat, sofern ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses Umstands und der Verspätung oder Annullierung eines späteren Flugs besteht. Ob diese Voraussetzung vorliegt, ist von den nationalen Gerichten unter Berücksichtigung des Betriebsmodus des betreffenden Flugzeugs zu beurteilen[6].
Wie der Bundesgerichtshof auf der Grundlage dieser Rechtsprechung bereits entschieden hat, ist ein unmittelbarer Zusammenhang regelmäßig nicht mehr gegeben, wenn zwischen dem Auftreten des außergewöhnlichen Umstands und einem späteren Flug ein Zeitraum zur Verfügung steht, der es ermöglicht, die entstandene Verspätung mit zumutbaren Maßnahmen aufzuholen. Eine solche Möglichkeit kann insbesondere dann bestehen, wenn der Einsatzplan entsprechende Zeitpuffer vorsieht. Letzteres wird häufig während der Nachtzeit der Fall sein. Eine abweichende Beurteilung kann aber insbesondere dann geboten sein, wenn die Möglichkeit, eingetretene Verspätungen über Nacht aufzuholen, aufgrund von Nachtflugverboten eingeschränkt ist oder ausscheidet[7].
In Einklang mit diesen Grundsätzen hat das Landgericht Stuttgart angenommen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang auch dann bestehen kann, wenn zuvor aufgetretene außergewöhnliche Umstände der Durchführung des in Rede stehenden Flugs zwar nicht entgegenstehen, die Durchführung dieses Flugs aber zu Beeinträchtigungen nachfolgender Flüge führen würde.
Der Bundesgerichtshof hat bereits mehrfach entschieden, dass die Nichtdurchführung eines einzelnen Flugs aufgrund außergewöhnlicher Umstände in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden kann, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können.
Wenn ein außergewöhnlicher Umstand dazu führt, dass nicht alle vorgesehenen Flüge stattfinden können, ist dem Luftfahrtunternehmen bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen ein Spielraum zuzubilligen[8]. Deshalb kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem außergewöhnlichen Umstand und der Annullierung eines für den Folgetag vorgesehenen Fluges zu bejahen sein, wenn sich das Luftfahrtunternehmen dafür entschieden hat, an dem Tag, an dem der außergewöhnliche Umstand eingetreten ist, alle vorgesehenen Flüge – wenn auch verspätet – noch durchzuführen[9]. Für den Fall, dass sich das Luftfahrtunternehmen entschließt, einzelne Flüge am Tag des außergewöhnlichen Umstands nicht mehr durchzuführen, um eine Annullierung oder große Ankunftsverspätung am Folgetag zu vermeiden, kann nichts anderes gelten.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist es einem Luftfahrtunternehmen allerdings grundsätzlich verwehrt, den Platz eines Fluggastes neu zu vergeben, um andere Fluggäste zu befördern; in solchen Fällen kann sich das Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung auch nicht mit der Begründung befreien, die Flüge seien infolge außergewöhnlicher Umstände umorganisiert worden[10].
In Fällen, in denen ein außergewöhnlicher Umstand Auswirkungen auf mehrere Flüge hat, die mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt werden sollen, ist hingegen dem Betriebsmodus der Luftfahrzeuge Rechnung zu tragen – insbesondere dem Umstand, dass zumindest in bestimmten Flugkategorien dasselbe Luftfahrzeug mehrere aufeinanderfolgende Flüge an demselben Tag durchführen kann. Deshalb muss es einem ausführenden Luftfahrtunternehmen möglich sein, sich zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen auf einen außergewöhnlichen Umstand zu berufen, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt hat[11].
Für die Beurteilung der Frage, ob der dafür erforderliche Ursachenzusammenhang besteht, ist der vorgesehene Betriebsmodus in seiner Gesamtheit zu berücksichtigen. Das Luftfahrtunternehmen ist deshalb nicht gehalten, ohne Rücksicht auf damit verbundene Folgen alle vorgesehenen Flüge durchzuführen, solange dies irgendwie möglich ist. Vielmehr darf es nach Möglichkeiten suchen, die Beeinträchtigungen, die ein außergewöhnlicher Umstand auf den Betriebsmodus des betroffenen Luftfahrzeugs hat, möglichst gering zu halten.
Deshalb kann ein ursächlicher Zusammenhang auch dann zu bejahen sein, wenn von der Durchführung einzelner Flüge am Tag des ungewöhnlichen Umstands abgesehen wird, um Annullierungen oder große Ankunftsverspätungen am Folgetag zu vermeiden.
Vor diesem Hintergrund ist die Beurteilung des Streitfalls durch das Landgericht Stuttgart für den Bundesgerichtshof aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Nach den Feststellungen des Landgerichts Stuttgart hat die Fluggesellschaft sowohl den von der Passagierin gebuchten und wegen der Wetterbedingungen bei den Vorflügen sowie der dadurch bedingten Verschiebungen von Slotzuweisungen nur verspätet durchführbaren Flug nach Hamburg als auch den vom Nachtflugverbot betroffenen Rückflug nach Stuttgart annulliert, um eine Durchführung der am Folgetag für das betroffene Flugzeug vorgesehenen Flugumläufe ab Stuttgart sicherzustellen.
Diese Abwägung ist geeignet, den erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen den aufgetretenen außergewöhnlichen Umständen und der Annullierung zu begründen.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob das Flugzeug ohne die in Stuttgart vorgesehene Untersuchung (daily check) am Folgetag überhaupt einsatzbereit gewesen wäre, nicht entscheidungserheblich. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob die Angriffe gegen die diesbezügliche Feststellung des Landgerichts Stuttgart begründet sind.
Rechtsfehlerfrei und insoweit nicht angegriffen hat das Landgericht Stuttgart festgestellt, dass eine anderweitige Beförderungsmöglichkeit, mit der die Passagierin Hamburg früher hätte erreichen können, nicht bestanden hat.
Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV sah der Bundesgerichtshof keinen Anlass. Der Unionsgerichtshof hat die für den Streitfall entscheidenden Gesichtspunkte bezüglich der Auslegung von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO in den oben angeführten Entscheidungen bereits aufgezeigt. Die Subsumtion einzelner Fälle unter diese Rechtsgrundsätze ist Aufgabe der nationalen Gerichte.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 24. September 2024 – X ZR 136/23
- Bestätigung von BGH, Urteil vom 21.08.2012 – X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 = RRa 2012, 288 Rn. 33[↩]
- Ergänzung zu BGH, Urteil vom 12.06.2014 – X ZR 121/13, NJW 2014, 3303 = RRa 2014, 293 Rn. 32[↩]
- AG Nürtingen, Urteil vom 11.04.2022 – 40 C 163/22[↩]
- LG Stuttgart, Urteil vom 28.09.2023 – 5 S 79/22[↩]
- dazu BGH, Urteil vom 13.11.2013 – X ZR 115/12, NJW 2014, 859 = RRa 2014, 78 Rn. 12 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 11.06.2020 – C74/19, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 51 ff. – LE/TAP[↩]
- BGH, Urteil vom 06.04.2021 – X ZR 11/20, NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rn. 32 f.[↩]
- BGH, Urteil vom 21.08.2012 – X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 = RRa 2012, 288 Rn. 33[↩]
- BGH, Urteil vom 12.06.2014 – X ZR 121/13, NJW 2014, 3303 = RRa 2014, 293 Rn. 32[↩]
- EuGH, Urteil vom 04.10.2012 – C-22/11, NJW 2013, 361 = RRa 2012, 281 Rn. 32 und 37 – Finnair/Lassooy[↩]
- EuGH, Urteil vom 11.06.2020 – C-74/19, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 52 f. – TAP[↩]